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Ausland Massenproteste

Erdogan wittert die Weltverschwörung

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan stellt neue Theorien über die Proteste in seinem Land auf Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan stellt neue Theorien über die Proteste in seinem Land auf
Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan stellt neue Theorien über die Proteste in seinem Land auf
Quelle: AFP
In der Türkei gehen die Proteste weiter, die Polizei setzt Gummigeschosse ein. Derweil vermutet der türkische Ministerpräsident Drahtzieher hinter den Demonstrationen in seinem Land und in Brasilien.

So hätten sich Einwanderungsgegner die laut Veranstaltern größte Migrantendemo in der Geschichte Deutschlands wohl nicht vorgestellt: Bis zu 60.000 zumeist türkischstämmige Demonstranten gingen am Samstag in Köln auf die Straße. Aber es ging nicht gegen Islamophobie oder Rassismus oder sonstige Beschwerden gegen Deutschland, sondern gegen den islamisch orientierten türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Unter dem Motto „Taksim ist überall“ wollten die Menschen ihre Unterstützung für die junge, proeuropäische Demokratiebewegung in der Türkei ausdrücken.

Auch dort gingen seit dem 31. Mai andauernden Massenproteste gegen die Regierung in mehreren Städten weiter. In Istanbul kamen zehntausende Menschen am Samstag mit Blumen zum Taksim-Platz, um der Todesopfer, aber auch der vielen Verletzten bei den brutalen Polizeiaktionen der letzten Wochen, zu gedenken. Die massiv präsenten Sicherheitskräfte ließen die Demonstration einige Zeit gewähren, trieben die Menge aber nach zwei Stunden mit Wasserwerfern auseinander.

Das war der Beginn einer weiteren langen Nacht mit vielen Verletzten und Verhafteten. Allein zehn Menschen wurden – nach Angaben der Ärztevereinigung – durch Gummigeschosse verwundet. Der Fotojournalist Patrick Tombola gab an, ein Kollege sei direkt neben ihm getroffen worden.

Neue Polizeitaktiken eingesetzt

Der Beschluss, Wasserwerfer gegen Blumenträger einzusetzen, zeigte die türkische Polizei erneut in einem denkbar schlechten Licht, die Verwendung von Plastikkugeln erst recht. Ansonsten aber wurden überraschende neue Polizeitaktiken eingesetzt, die wohl als Versuch gelten dürfen, allzu furchtbare Bilder in den Weltmedien zu vermeiden.

Vielleicht handelt es sich um einen „Merkel-Effekt“: Die Bundeskanzlerin hatte sich erschüttert gezeigt über die Bilder von den Vorgehensweisen der Sicherheitskräfte. Nicht zuletzt deswegen steht derzeit auf der Kippe, ob Deutschland der Eröffnung eines neuen Verhandlungskapitels zum türkischen EU-Beitrittsbegehren zustimmt. Am Samstag wurde in diesem Zusammenhang auch der deutsche Botschafter in Ankara ins Außenministerium zitiert – zuvor war der türkische Botschafter in Berlin ins deutsche Außenamt gerufen worden, um aggressive Töne des türkischen EU-Ministers Egemen Bagis gegen Bundeskanzlerin Merkel zu erläutern.

Konfliktparteien achten auf die Medien

Die Ereignisse des Tages zeigten, dass die Konfliktparteien in Istanbul mittlerweile die internationalen Medien als Hauptadressaten ihrer Handlungen sehen. Die Protestbewegung versucht, mit witzigen, friedlichen Aktionen wie dem tausendfach „stehenden Mann“ auf dem Taksim-Platz, oder nun der Blumenniederlegung, zu zeigen, dass sie nicht aus Extremisten besteht, und die Polizei versucht zu zeigen, dass sie nicht anders vorgeht als Polizei in europäischen Ländern.

In diesem Ringen um ihr Erscheinungsbild in den internationalen Medien scheint die Regierung hoffnungslos unterlegen, vor allem dank der rhetorischen Leistungen Erdogans, der erneut mit surrealen Thesen einer Weltverschwörung gegen die glorreichen Errungenschaften seiner selbst an die Öffentlichkeit trat.

In einer Rede in der zentralanatolischen Kayseri argwöhnte er, ein ominöses „Zentrum“ stehe hinter allen Massendemos der Welt, insbesondere in Brasilien und der Türkei. Es seien „dieselben Masken, dieselben Slogans“, es seien dieselben internationalen Medien, in beiden Fällen auch Facebook und Twitter, es sei also klar, dass hinter den Protesten in Brasilien und in der Türkei „ein gemeinsames Zentrum“ stehe, das versuche, diese Länder zu „destabilisieren“.

Demonstranten auseinandergetrieben

Auf dem Taksim-Platz selbst wurde gegen die Demonstranten am Samstag kein Tränengas eingesetzt. Massen von Polizisten drängten die Menge mit ihren Schutzschilden zurück, teilweise bildeten Polizisten Menschenketten, um Demonstranten abzudrängen.

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In den Seitenstraßen allerdings und auf der zentralen Einkaufsmeile Istiklal wurde – neben Gummigeschossen – sehr wohl Tränengas verschossen. Bis in die frühen Morgenstunden dauerten die Versuche, mehrere Tausend jugendliche Demonstranten aus der Innenstadt zu vertreiben. Trotz aller Gasschwaden gab es aber auch da neue Taktiken: mehrfach fuhren einzelne „Tomas“, das sind große Wasserwerfer und gepanzerte Jeeps, die Tränengaswolken absondern können, die Istiklal hinunter, ohne aber Wasser oder Gas zu versprühen, und trieben so die Demonstranten auseinander. Denn die rennen meist schon, wenn solche Fahrzeuge nur nahen.

In den frühen Morgenstunden dann verblüffende Szenen: Polizisten nahmen ihr Helme ab und gingen auf Demonstranten zu, um sie zu überreden, nach Hause zu gehen, oder zumindest die „Randalierer“ unter ihnen auszusondern. Wenig später war denn auch wieder Friede, eine brennende Barrikade beseitigt, und reger Publikumsverkehr in der Fußgängerzone kehrte rasch zurück. Das ist auf dieser Straße auch um zwei Uhr morgens an einem Samstagabend der gewohnte Anblick.

Nur: Hätte die Polizei am Nachmittag einfach etwas länger gewartet, dann hätte es vielleicht gar keine Intervention geben müssen – ohnehin begann sich die vollkommen friedliche Demonstration allmählich aufzulösen.

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